Walter Schäfer

"Corporibus caecis igitur natura gerit res"

Lukrez, De Rerum Natura 1/329

Leserbrief: Die Industrie verliert den Anschluss an die Grundlagenforschung

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Hans Magnus Enzensberger: "Die Industrie verliert den Anschluss an die Grundlagenforschung" von (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.1998, Nr. 233, S. 20)

Es ist hoch zu loben, dass die FAZ (Die Industrie verliert den Anschluss an die Grundlagenforschung, Nr. 233, S. 20) dieser Problematik den gebührenden Raum zuweist. Karen Horn spricht von der verkürzten Optik der Unternehmer. Das ist richtig, gilt aber nicht nur hier und ist auch zum grossen Teil verständlich und unter den Umständen entschuldbar. Diese Thematik bietet sogar einen Schlüssel zum Verständnis des Laufs der politischen Dinge in Deutschland: Beim Wahlgang sind wahrscheinlich viele deutsche Bürger, viele im Osten und nicht wenige im Westen dem Slogan gefolgt, dass Kohl den Deutschen die Arbeitslosigkeit beschert habe. Nichts war absurder als das. Die Arbeitslosigkeit wurde von Unternehmern und Gewerkschaften gemeinsam "erarbeitet".

Unternehmer müssen ihre Energie in ihre Mikroökonomie stecken, damit diese läuft. Gewerkschaften müssen ihre Energie im Interesse ihrer Mitglieder einsetzen, um für diese das Optimale herauszuholen. Das Optimale ist aber nicht immer das Maximum. Unternehmer waren bei Abschlüssen zufrieden, dass sie für ein Jahr oder 18 Monate unternehmerische Dispositionsklarheit hatten, Gewerkschaften, wenn sie ein paar Prozente einbrachten. Beide aber hätten etwas mehr Energie verwenden sollen für den Blick auf die Makroökonomie. Beide sahen nicht, wie die Strukturprobleme wuchsen, die nie über Nacht kommen. Sehr lange Vorlaufzeiten sind die Regel, und die Entwicklung bei Kohle, Stahl, Textil, Leder, Schiffbau hätte früher und deutlicher gesehen werden können. Kartelle sind auch nicht das Heil, auch wenn sie bei der Landwirtschaftspolitik, bei Industrie-Krisenkartellen von den Staaten hinter der EU als schlechtes Beispiel vorexerziert wurden.

In USA gehen die Einfädler von Kartellabsprachen ins Gefängnis, in Europa zahlt man Geldbussen. Vielleicht könnte man in Europa die industrielle Wettbewerbsfähigkeit schneller wieder zurückbringen, wenn man die US-Antitrust-Praxis in Europa einführte. Kennt jemand Dunkelziffern bei Kartellabsprachen?

Grundlagenforscher zu fragen: "Was wird denn da rauskommen?" ist naiv, auch wenn die Frage von gestandenen Politikern gestellt wurde. Wenn man aber schon nicht in die Zukunft schauen kann, so ist der Blick in die Vergangenheit immer lohnend. Was hätten wohl Planck, Einstein, Schrödinger, de Broglie, Heisenberg, Bohr, Born, Dirac hier geantwortet? Sie hätten nicht den Chip, den Laser, neue Werkstoffe voraussagen können.

Bei der Quantenmechanik war in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts nichts Fundamentaleres in der Grundlagenforschung als die Frage: "Wie läuft das denn eigentlich wirklich im Mikrokosmos?"" Heute tägt praktisch alle Hochtechnologie den Stempel Quantenmechanik, eine Entwicklung, die ganz entscheidend durch eine Doktorarbeit (Louis de Broglie, November 1924, Paris, Dualismus Welle/Korpuskel), durch universitäre Grundlagenforschung vitalisiert wurde. Ganz nebenbei ist der spinoff hier und heute nicht nur kommerziell, sondern auch kulturell gewaltig, wenn man bedenkt, was die moderne Grundlagenforschung bei Astrophysik und Kosmologie an Verständnis für die Fakten des Universums aus dem Weltall holt. Theologen und Astrologen hören da nur noch zu.

Spätmarxistische Soziologen wie Horkheimer haben den Wissenschaftlern und den Industriellen den Schwarzen Peter der instrumentellen Vernunft zugeschoben (obgleich diese auch in Geisteswissenschaften wie Soziologie und Theologie munter blüht, auch bei der FAZ mit Konrad Adam) und nicht nur über Brecht verteufelt. Ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können! Der ideologische spätmarxistische Filz in Deutschland wird dort kaum wahrgenommen, er bremst bei der Forschung und bei der Wirtschaft. Er steht auch hinter dem Wahlergebnis: es kommen jetzt mehr 67er ans Ruder. Wer in Deutschland noch eine Mark investiert, ist der nicht schon ein klinischer Fall für die Psychotherapie? Das kostet Arbeitsplätze.

Man nehme ein modernes Lehrbuch der Ökonomie: Es gibt zwei wichtige Produktionsfaktoren, nämlich Arbeit und Kapital. Wenn einer fehlt, ganz gleich welcher, dann läuft nichts. Und wenn ein Produktionsfaktor dem anderen am Stuhlbein sägt, dann kann nichts Optimales dabei herauskommen. Die Synergie beider Faktoren hat in der Forschung traditionell viel geleistet und viel zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen in der Wirtschaft beigetragen.

Wissenschaft steht aber auch im Dienste der Aufklärung, und man sollte die kulturelle Wohltat nicht übersehen, dass sie hilft, bei absoluten Wahrheiten gründlich aufzuräumen. Kant empfiehlt in der Vorrede zu seiner Kritik der reinen Vernunft, bei der Grundlegung von Denksystemen die “Mathematik und die Naturlehre” zum Vorbild zu nehmen. Dies war an die Theologie gerichtet. Heute würde er sicher auch die Soziologie in die Empfehlung mit einbeziehen und beide wohl einladen, die Verantwortung zu übernehmen für die Folgen der Erfindungen ihrer instrumentellen Vernunft. Die wahrscheinliche aber doch recht zuverlässige Wahrheit der Wissenschaft steht gegen die absoluten Wahrheiten, die der Menschheit mit ihren Konflikten untereinander viele viele Millionen von Toten gebracht haben. Auch in dieser kritischen Optik ist das Geld des Steuerzahlers bei der Grundlagenforschung Frieden-sichernd gut angelegt.


Brussel, 12.10.1998