Walter Schäfer

"Corporibus caecis igitur natura gerit res"

Lukrez, De Rerum Natura 1/329

Leserbrief: Schuld ist immer die EU

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Werner Mussler: "Schuld ist immer die EU" von (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.2008, Nr. 5, S. 11)

Werner Mussler bringt die Dinge deutlich auf die richtigen Schienen. Nach 35 Dienstjahren bei der Kommission ist meine Erfahrung Serie, dass man in den Mitgliedsstaaten sehr oft nicht weiss, was wie bei der EU läuft, sondern, dass man oft schwätzt, ohne sich gründlich schlau zu machen, und dies, obgleich die Webseite der Kommission von den meisten PCs leicht erreicht werden kann.

Den Vogel schoss hier ein bayrischer Minister ab, als er der FAZ erzählte, dass Europa-Beamte keine Steuern bezahlen.

AUTO: In meinem amerikanischen PHYSIK-Buch lese ich, dass, wer 120 km/h statt 160 km/h fährt, 40% weniger Benzin verbraucht. Der gaspedalbewusste Fahrer schont so nicht nur die EU-Handelsbilanz, sondern er stösst auch 40% weniger CO2 aus. Dass Merkel als Physicochemikerin dies nicht sieht ist nicht faktenbewusst.

Seit über 20 Jahren habe ich meinen Hubraum halbiert (2,8 Liter -> 1,4 Liter) und fahre konsequent bei vielen Überlandstrecken in Europa 110-120 km/h. Die Vorteile merke und geniesse ich deutlich selbst am Geldbeutel.

In den letzten Tagen hörte man oft deutsche Kritik: Verheugen hat geschlafen. Er hat nicht aufgepasst, als die deutsche Autoindustrie in Brüssel über den Tisch gezogen wurde. Verheugen ist nicht weisungsgebunden an Berlin. Sein Job ist nicht, Regierungen und Verbände von Mitgliedsstaaten bei der Siesta zu stören.

Wenn Verbände nur Minimal-Energien in die Konsensus-Suche stecken, kommen sie notwendigerweise nur mit kleinsten gemeinsamen Nennern zur Kommission und fallen dort mit dieser Schwäche auf. In der Vergangenheit haben vor allem viele arbeitsintensive Industriesektoren ihre Strukturprobleme nicht wachsen sehen, sind zu spät wach geworden und haben versucht, mit Krisenkartellen das Porzellan der Wettbewerbsfähigkeit zu retten (industriepolitische Bastelei).

Brauchen wir da nicht bessere Unternehmer und bessere Gewerkschaften?

Warum wird mit Marx nur das Privatkapital verteufelt und die staatskapitalistischen Pleiten von Sowjetunion oder der DDR nicht vergleichbar verteufelt? Ganz zu schweigen von den Pleiten menschlicher Kultur dort!

GALILEO: Politisch und wirtschaftlich haben wir heute in der Gemeinschaft wesentlich mehr kritische Masse als in der Sechsergemeinschaft der 60er Jahre und des Beginns der politischen Zusammenarbeit (Davignon). Was sind denn heute die Perspektiven und Prospektiven nationaler Rettungsinseln ohne die Gemeinschaft? Galileo ist wichtig genug. Das Geld ist gut angelegt. Für eine dynamische Gemeinschaft ein Klax (im Prinzip).

ENERGIE: An Euratom wurde kein gutes Haar gelassen. Deutsche, englische, französische Kernforschungszentren mussten sich aber genauso rezyklieren wie Ispra. Auch dort hatten die öffentlichen Hände in energie-industriellen Bereichen überinvestiert.

Das gaullistische Frankreich hat nicht auf Euratom gehört und bei der Kernenergiepolitik zwei Jahrzehnte Zeit verloren, mit der "filière française" einen Kernenergie-politischen Bankrott eingefahren und doch noch mit der Hilfe von Euratom den Anschluss an amerikanische Lizenzen gewonnen. Es wäre ein Klax gewesen, die beiden Optionen "filière française" oder "US-Kernreaktoren" unvoreingenommen zu verfolgen und sich zu gegebener Zeit sachlich zu entscheiden. Aber de Gaulle hatte mit Amerika nichts am Hut. Das brachte Sand ins Getriebe von EURATOM, insbesondere von Ispra. Immerhin kommen heute 80-90% französischer Elektrizität aus Kernreaktoren amerikanischer Bauart, auch dank Euratom und EDF. Bei der thermonuklearen Fusion war Euratom Weltspitze (Palumbo). Die Gemeinschaft hätte es sich leisten können, ITER alleine zu verfolgen, was sicher Vorteile gebracht hätte. Cadarache kann nun weiterleben.

Bei dem von Euratom organisierten gemeinschaftsweiten Erfahrungs-austausch der Kernkraftwerksbetreiber (Siebker) wäre ein Tschernobyl-Unfall nie passiert. Durch das Zentralkomittee der Sowjetunion ist belegt, dass man bei den Graphitreaktoren von Tschernobyl thermodynamisch geschlafen hat. Ursache des Unfalls war eine kompetenzfreie Bastelei sowjetischer Machart.

Um Weltspitze zu erreichen ist die EU nicht unabdingbar. CERN und ESO belegen dies deutlich. Dass eine gute Mannschaft aber mehr zuwege bringt als Einzelgängerei ist nicht von der Hand zu weisen. Die Kommission spielt das Spiel der Mannschaft, hat es zu spielen. Wenn sich die Mitglieder der Kommission zu nationalen Sachwaltern degradieren oder wenn ein Mitglied der Kommission ihrem Astrologen öffentliche europäische Mittel zukommen lässt, dann ist dies alles andere als europäische politische Würde.

Technische, wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Vernunft hat es nicht immer einfach. Aber wir haben mit der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft in Europa Modelle, die sich in der Welt sehen lassen können, die weit besser sind als die von Hitler, Lenin, Stalin und anderen Massenmördern.

Das beste Modell in Europa heisst Frieden, die USA überragend.

Die beiden ersten Sätze der Schumann-Erklärung vom 9. Mai 1950 haben nichts von ihrer politischen Tragkraft verloren. Auch Schiller nicht mit seinem "Freude, schöner Götterfunken…".


Brussel, 07.01.2008