Leserbrief: So sicher sind unsere Kernkraftwerke
BackProf.Dr. Karl-Hartmut von Wangenheim: "So sicher sind unsere Kernkraftwerke" von (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.07.2008, Nr. 162, S. 8)
Tschernobil war kein regulärer Betriebsunfall. Prof. von Wangenheim weist darauf hin, dass es unredlich und demagogisch ist, immer wieder auf Tschernobyl herumzureiten. Er geht viel zu milde mit den Herumreitern um: Diese Herumreiterei ist „blödes Deutschland“! Tschernobyl war kein regulärer Betriebsunfall. Dieser Unfall war durch unglaubliche technische Dummheit induziert. Gewichtiger kann dies garnicht belegt werden: nämlich durch das Zentralkommittee der Sowjetunion.
Ich zitiere nach 22 Jahren aus dem Kopfe: Zwei oder drei Wochen nach dem Unfall veröffentlichte diese höchste Instanz der Sowjetunion, ich glaube in der Prawda, einen Bericht über den Unfall. Zwei oder drei Tage später brachte das “Neue Deutschland“ in Ostberlin diesen Bericht in deutsch, und am Tage drauf übernahm ihn von dort auch die FAZ (eine halbe Seite). Ich übersetzte diesen Bericht sofort ins Englische und gab ihn zur Information an die damals noch verbliebene Euratomhierarchie.
Was war da gelaufen nach Darstellung des sowjetischen ZK? Irgendjemand wollte wissen, was passiert, wenn eine der acht oder neun dem Reaktor nachgeschalteten Turbinen ausfällt. Man hat also eine Turbine ausfallen lassen, und mit dem Wärmerückstau fingen 80 Tonnen Graphit Feuer. Etwa 30 oder 29 Tote der ersten Phase. Zwei oder drei davon waren in die Flammen gesprungen, um Ventile abzustellen, die übrigen griffen nicht gleich zu ihren Masken und bekamen ihre Lungen durch beta-Aktivität verstrahlt. Von Kühlwasserausfall war keine Rede. Was kernphysikalisch aus der Kontrolle lief wurde nicht diskutiert in dem ZK-Bericht, soweit ich mich erinnere.
Nehmen wir eine einfache Übungsaufgabe für die Ingenieursausbildung in technischer Thermodynamik: man teilt die Kenngrösse Reaktorabwärme durch acht oder neun sagen wir (Anzahl der Turbinen) und überlegt, was der entsprechende durch Ausfall einer Turbine bedingte Wärmerückstau anrichten kann. Die errechneten Joules sollten kalte Füsse und heisse Hintern einjagen. Man achte auf die Alliteration. Wir hatten über viele Jahre hinweg in der Euratomgruppe Siebker (Erfahrungsaus-tausch der Kernkraftwerksbetreiber in den EURATOM-Mitgliedsländern /bei Planung, Bau und Betrieb von Kernkraftwerken) eine intensive Gemeinschafts-weite Zusammenarbeit. Dort wäre diese Tschernobyl-Idee garnicht auf den Tisch gekommen.
Wie kann man nur so leichtsinnig mit einem Kernreaktor umgehen und kostbares Staatskapital über Dach fahren? Privatkapital fährt da besser, vorsichtiger. Man sollte es nicht so verteufeln! Der sowjetische Staatskapitalismus hat schliesslich bankrott gemacht. Der in der DDR auch. Wenn die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sich gegenseitig am Stuhlbein sägen, kann man nun mal nichts Optimales erwarten.
Argolis, 15.07.2010