Leserbrief: Vortreffliches für verbildete Zeitgenossen
BackErdmut Wizisla: "Vortreffliches für verbildete Zeitgenossen" von (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2004, Nr. 215, S. N3)
Seit ungefehr 1900 liegt in Italien die Wahrheit um Galilei mit der Nationalausgabe seiner Werke gedruckt (Italienisch und Latein) auf dem Tisch. Brecht kannte diese Wahrheit nicht. Er ist daher nach von ihm selbst gesetzten Kategorien ein Dummkopf (“Wer die Wahrheit nicht weiss, der ist nur ein Dummkopf”).
Galilei hat nicht abgeschworen, weil er gerne ofengebratene Gänse frass, sondern weil in Florenz eine Pest gewütet hatte, die Kassen leer waren und der Gran‘Duca daher die Kosten für den Aufenthalt und den Prozess Galileis in Rom nicht mehr tragen wollte. Er machte Druck auf den etrurischen Botschafter Nicolini in Rom, die Affäre Galilei so rasch wie möglich vom Tisch zu bringen.
Nicolini wiederum machte Druck auf Galilei (den er kostensenkend in sein Haus aufgenommen hatte), sich nicht weiter um die Verteidigung seiner Thesen zu kümmern, sondern alles zu unterschreiben, was man ihm vorlegen würde. Galilei war am Folgetage so todunglücklich, dass Nicolini um dessen Leben fürchtete. Galilei war 69 Jahre alt. Auch die Idee der Abiura ist nicht auf dem Humus des Vatikan gewachsen, sondern wurde den Theologen dort von Nicolini suggeriert.
Die Nachkriegsfassung des „Leben des Galilei“ hat Einstein mit Sicherheit nicht gelesen; er hätte Brecht zu dem Passus „die Physiker, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können“ alles andere als Komplimente gemacht.
Einstein wird bildlich dargestellt mit einer Legende „Die Wissenschaft nach dem Verlust ihrer historischen Unschuld“. Hat die Theologie eine historische Unschuld je besessen? Hat Brecht sich da nicht in der Adresse geirrt? Wann hätten die Theologen des Erdballs je die Verantwortung übernommen für die Folgen der Erfindungen ihrer instrumentellen Vernunft?
Es dauerte 200 Jahre bis der „Dialogo“ von Galilei nicht mehr auf den Index gesetzt wurde. 200 Jahre lang standen hier Theologen auf dem Schlauch, bis sie beim Sonnensystem Schöpfung begriffen. Das ist unter Hilfsschulniveau. Vergleichen wir einmal Leichenlisten numerisch: Hiroshima und Nagasaki um 300 000 Tote.
Bei dem Genocid der katholischen Ustascha an den orthodoxen Serben (1941-1943) mehr als doppelt soviel: 700 000. Zwischen etwa 1500 und 1780 wurden in Deutschland eine Million deutscher Frauen als Hexen verbrannt. Die Gesetze wurden im Vatikan gemacht und die Show jeweils von Theologen organisiert. Auch Protestanten haben den Weibergrill aktiv betrieben.
Als in der Sowjetunion die Bauern nach Missernten gegen die Landwirtschaftspolitik Stalins protestierten, hat Stalin 6000 Bauerndörfer mitsamt der Bevölkerung einäschern lassen. Auch hier viel mehr Tote als in Hiroshima und Nagasaki. Das wäre doch Stoff für Brecht gewesen. Hat der Feigling hier systemkonform das Maul gehalten?
Die Führer der Ustascha (Ante Pavelic und ein katholischer Priester) wurden nach dem Krieg eine Weile in römischen Klöstern versteckt gehalten und dann unter Kutten mit Vatikanpässen nach Spanien und Argentinien geschleust (gut recherchierter BBC-Videoclip).
Ich habe den Hüter der katholischen Wahrheit (den Gendarmensohn Josef Ratzinger) vor geraumer Zeit schriftlich gebeten, die Archive zu öffnen und zu belegen, dass der Vatikan aktiv gegen die katholisch-kroatische-Nazi-Paranoia der Ustascha eingetreten ist. Keine Antwort. Eine historische Unschuld wurde nicht belegt.
Bei Brechts Galilei ist nicht nur Einstein einem Dummkopf aufgesessen, sondern auch alle Deutschlehrer und deutschen Primaner, die den „Galilei“ von Brecht seit dem Krieg lesen lassen bzw. lesen.
Der Streit zwischen den absoluten Wahrheiten der Theologen des Erdballs und vieler Politideologen einerseits und der wahrscheinlichen, damit aber besserbaren und zuverlässigeren Wahrheit der Wissenschaft andererseits geht weiter.
Es ist beruhigend zu erleben, dass Theologen im Krankheitsfalle sich nicht mehr aufs Beten verlassen, sondern zum Arzt gehen, um sich von modernster Wissenschaft pflegen zu lassen. Auch Astrologen setzen dann nicht mehr auf ihre Sterne. Und wann übernimmt die Frankfurter Schule die Verantwortung für die Folgen der Erfindungen von Horkheimers instrumenteller Vernunft? Erinnern wir uns: Die RAF, eine Horkheimer-Blüte. Die ersten RAF-Aktionen waren zwei Kaufhausbrände in Frankfurt.
Haben Geistes- und Grenzwissenschaftler da Lücken in den Horizonten? Wie lau geht man da mit absoluten Wahrheiten um. Theologen, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können?
Brussel, 17.09.2004