Nur mit halben Horizonten
BackZum Thema: "Der Himmmel zwischen zwei Welten" (F.A.Z. Leitartikel vom 28.09.1985)
Zum Leitartikle empfehlen zwei Leserzuschriften (F.A.Z. vom 17 Oktober) "ubersehene" Titel, die eine den für das Lager symptomatischen "Grenzen der Wissenschaft und Freiheit des Glaubens" und die andere (von einem renommierten Theologen stammend) lastet die Problematik "einer gewissen vom 19. Jahrhundert hinterlassenen Halbbildung" an. Denkt Thielicke hier an die halben Horizonte all derer, die seit dem letzten Jahrhundert nur Latein und Griechisch von gestern und vorgestern zitieren gelernt haben und die immer nur Texte vergleichen?
Etwa an den Heidegger, der "die Frage nach der Technik" stellt und dem darn nichts Kompetentes einfällt, weil der Humanist Titel tibersieht wie "Massenarmut und Massenepidemien im vorindustriellen Deutschland", Geisseln, die man nur mit Wissenschaft, Technik und Industrie, nicht mit Theologie und Philosophie in den Griff tekommen hat?
Oder etwa an Habermas, der unter dem prätentiösen Titel "Technik und Wissenschaft als Ideologie" das Thema nur dürftig abhandelt, um dann später in der "Theorie des kommunikativen Handelns" kleinlaut beizugeben, dass der Weg Ger immanenten Wissenschaftskritik ein steiniger ist?
Oder denkt Thielicke etwa an die halben Horizonte der Kritischen Theorie (Horkheimer und andere), die die Menschen, die in Wissenschaft, Technik und Industrie arbeiten, zu Heloten herabwiirdigt und ihnen den Schwarzen Peter der instrumentellen Verkunft zuschiebt, die dann durch die Philosophen (mit halben Horizonten) zu kontrollieren seien? Wo sieht man denn die Spuren der instrumentellen Vernunft der Kritischen Theorie besser als nach Krawallen in der Frankfurter Innenstadt?
Es, ist schon richtig: die Theologen, Soziologen, Philosophen, sie schweigen nicht, sie reden und schreiben viel, aber eben nur mit halben Horizonten, weil sie die wichtigste Der.ksprache der Neuzeit (Mathematik) nicht sprechen und weil sie keinen Zugang zu Naturwissenschaften und dzsmit zu den Schöpfungsprozessen und den im Universum wirkenden Kräften haben, Kräften, die aus dem Chaos Ordnung schaffen und Ordnung wieder in das Chaos zurtickfallen lassen. und dies auf allen Ebenen und mit naturgemässer Unerbittlichkeit.
Wo sind denn die Theologen, Soziologen, Philosophen, die zur Diskussion um die "big bang boundary conditions" Wesentliches beigetragen hätten? Die an der Vereinheitlichung der Theorie der im Universum wirkenden Kriifte tatkräftig mitarbeiten? Wo sind die Beitrage der Theologen zur Molekularbiologie? Was ist da zu hoffen, wenn man in ewigkeitsgeschlossencn Systemen arbeitet?
In Rom haben Theologen, wenig vor Galileis Abschwur, einen Menschen vor den Augen der Offentlichkeit verbrenen lassen, bei lebendigem ausgemergeltem Leibe, um Angst einzujagen, um Herrschaft zu etablieren und zu konsolidieren, im Namen Gottes. Theologisches Herrschaftswissen vergewaltigt ein Geschaft mit der Angst, ohne dass sich die Kritische Theorie darum kümmert. Theologisches Herrschaftswissen etabliert (aus Bequemlichkeit?) Glauben da, wo man wissen muss: Am Anfang konnte weder das Wort noch Logos, noch Sinn sein, weil dies thermodynamisch unmédglich ist. Der Tod ist eine irreversible Erscheinung, und damit ist auch Seele und Theologie am Ende für immer, eine Auferstehung des Fleisches und des Blutes ist thermodynamisch ebenfalls unmöglich, Wenn es einen setze, die fir das Universum gelten.
In der Nachfolge der Vorsokratiker und jin der Überwindung des aristotelischen Meinungsdenkens haben die Naturwissenschaftler den Himmel, den einzigen, den es gibt, auf die Erde geholt. Damit ist "die Schöpfung" für einen Naturwissenschaftler wunderbarer geworden, als sie für einen Theologen jemals sein kann, mit dem zusatzlichen Gewinn, dass das Prinzip Hoffnung ein Prinzip des Lebens ist und nicht über den Tod hinausreicht und dass das Leben und das Universum nur den Sinn haben, den wir ihnen geben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.11.1985, Nr. 255, S. 8